Die Revolution wird nicht im Fernsehen ausgestrahlt – aber wahrscheinlich gibt´s einen Twitch-Stream. Von Thomas Kunze
Der folgende Text soll nicht nur polemisch sein, er ist es aber gelegentlich. Es ist eine leidenschaftliche, oft subjektive Auseinandersetzung mit einer Thematik, mit der man sich beschäftigen sollte. Gerade weil wir uns mit diesen Gedanken vielleicht noch nicht auseinandergesetzt haben.
Es geht um die Frage, inwiefern neue Medien und Plattformen zur Lösung der Krise beitragen können, die sich deutlich bemerkbar macht im Bereich der ‚Wissens- und Informationsindustrie‘ – sei es die Medienbranche oder der Bildungssektor – und es wird meines Erachtens nach höchste Zeit.
Denn wir befinden uns inmitten einer Revolution.
Eine Revolution, die irgendwie mit dem Internet zu tun hat. Und mit dem Aufstieg der Computerspielbranche. Die uns alle zu potentiellen Produzentinnen und Produzenten macht im Medienbetrieb unserer Zeit. Die uns einlädt zu Interaktion und Interaktivität. Die uns ermöglicht, überall auf vielfältiges Wissen zuzugreifen und es für unsere Zwecke zu verwenden. Und die uns befähigt, frei unser Programm zu wählen aus einer Vielzahl von verschiedenen Quellen, sei es um uns zu bilden und zu informieren oder ‘nur’ um uns unterhalten zu lassen.
Für uns Computerspielende ist das schon seit einer Weile alltäglich. Das Potenzial sich zu informieren oder zu interagieren ist riesig und wir scheinen bisher nur in Ansätzen begriffen zu haben, was das wirklich bedeutet.
Gefühlt alle Jugendlichen unter 18 konsumieren kein klassisches Fernsehen mehr
Momentan merken wir es vor allem dadurch, dass sich traditionelle Medienproduzenten immer schwerer tun. Der Printbereich stagniert seit Jahren und es scheint keine Besserung in Sicht. Wie auch, wenn man feststellt, dass sich immer größere Teile der Zielgruppe kaum noch mit traditionellem Journalismus beschäftigen. Es geht sogar noch einen Schritt weiter, denn das Publikum bis 18 Jahre hat sich inzwischen scheinbar vollständig aus dem traditionellen Medienbetrieb verabschiedet.
Gefühlt alle Jugendlichen unter 18 konsumieren so gut wie kein klassisches lineares Fernsehen mehr und haben dieses Medium einfach durch Netflix, YouTube und andere Streaming-Dienste ersetzt. Der neue Traumjob heißt Youtuber und nicht Journalist oder Moderator.
Sie nutzen zudem soziale Plattformen und Medien, um ihren Hunger nach Information und sozialer Interaktion zu stillen. Und ansonsten spielen sie lieber digitale Spiele, als ins Kino zu gehen oder zu lesen. Das klingt zunächst einmal bedrohlich und irritierend, aber gleichzeitig sind damit riesige Potenziale verbunden.
Es zählt nicht, was du bisher erreicht hast, es zählt nur, wohin du dich entwickeln willst
In der Schule und in der Universität sieht es ganz ähnlich aus wie im Medienbetrieb. Die Krise wird offensichtlich und kann nicht mehr ignoriert werden. Erste große Unternehmen konstatieren, dass für sie Zeugnisse und Bildungsabschlüsse eigentlich keine Rolle mehr spielen. Ganz nach dem Motto, es zählt nicht, was du bisher erreicht hast, es zählt nur, wohin du dich entwickeln willst.
Mit schöner Regelmäßigkeit hört man von Unternehmen, dass sie mit den Qualifikationen der frischen Schulabsolventinnen und -absolventen immer weniger zufrieden sein können. Da hilft auch kein Universitätsstudium, das inzwischen auf Master- und Bachelorabschlüsse zurecht gestutzt wurde. Ein Studium, das teuer ist und sich dennoch oft nicht mehr lohnt, im Vergleich zu Berufsausbildungen ohne akademischen Abschluss. Das heißt, falls man überhaupt einen Job findet nach dem Studium.
Stattdessen bleibt die Akademik betont in traditionellen Vermittlungsmethoden stecken, die sich alle am geschriebenen Wort als Quell allen Wissens festhalten und allzu oft den Vortragenden als allwissenden Weisen auf der Bühne sehen. Dementsprechend boomt der außerschulische Bildungs- und Qualifizierungsbereich.
Twitch und YouTube könnten die größten Lernmedien unserer Zeit werden
Was hat das alles mit Computerspielen oder Streaming zu tun?
Sehr viel und da spreche ich nicht davon, dass Computerspiele und YouTube daran schuld wären. Ich möchte stattdessen eher das Gegenteil betonen.
Meine Haltung zum Lern- und Bildungswert von Spielen habe ich hier bereits kundgetan. Und ich finde es bezeichnend, dass sich ein (jugendliches) Publikum, mit dem laut Aussagen vieler ‚Spezialisten’ im Bildungssektor so wenig anzufangen sei, so umfangreich und ausdauernd mit dem ‚Lernmedium‘ Spiel auseinandersetzt. Das ist noch nicht alles, denn sie schauen dann auch noch anderen beim Spielen zu, unter anderem, um zu lernen, sich zu entwickeln und am Diskurs rund um ein Spiel teilzuhaben.
Twitch und YouTube könnten die größten Lernmedien unserer Zeit werden. Vielleicht sind sie es schon. Und sie werden vielleicht ihren Teil dazu beitragen, diese Revolution zu prägen. Schon heute kann man (unter anderem) mit YouTube und Twitch praktisch alles erlernen, ohne ein Schulhaus oder eine Bibliothek dabei betreten zu müssen.
Diese Portale sind die bevorzugten Medienkanäle von Jugendlichen. Kanäle, die in ihrer Vielfalt und Komplexität kaum zu erfassen sind. Ich kenne niemanden, der von sich behaupten kann, Twitch oder YouTube in seiner Gesamtheit zu kennen oder zu verstehen. Zu groß sind diese Plattformen heute schon und es fehlt an Kuratoren oder schlicht nur einem Äquivalent zur Programmzeitschrift. Man kann dort alle möglichen Dinge lernen, vom DIY-Bereich übers Programmieren bis hin zur richtigen Pflege der Zimmerpflanzen.
Kompetenzen vermitteln, die weit über Lehrpläne hinausgehen
Wenn ich etwas über Spiele in Erfahrung bringen möchte, sind YouTube und Twitch ebenfalls das Medium der Wahl. Wenn ich mit Spielen lerne, ist es heute eigentlich genauso. Als Fachmann für diese Thematik gehören Gameplay-Videos, Let‘s Plays, Tutorialvideos, Speedruns und Streams zu meinen wichtigsten Quellen. Video funktioniert in diesem Fall einfach. Und in der Entwicklung neuer digitalisierter Lehr- und Lernformen gilt der Flipped Classroom (FC) als eines der spannendsten und vielversprechendsten Konzepte.
FC bedeutet, das Klassenzimmer umzudrehen. Der theoretische Input wird ausgelagert und geschieht nicht im Unterricht. Stattdessen wird er in Form von Videos aufbereitet, damit Lernende ihn jederzeit und überall nutzen können und immer wieder darauf zugreifen können.
Ich habe in einem Buch zum Thema über den Zusammenhang zwischen FC-Videos und Let‘s Plays schreiben dürfen und abgesehen von der Verwendung des Mediums Spiel haben die beiden Formen viel gemein.
Wenn man von YouTube und produziertem Video-Content einen Schritt weitergeht in Richtung Livestream mit noch umfangreicheren Möglichkeiten der Interaktion, ergeben sich interessante Anwendungsfelder. Hier treffen spannende Elemente aufeinander, (meist) interaktive Computerspiele aufbereitet im interaktiven Medium Live-Stream dienen dazu, Inhalte und Kompetenzen zu vermitteln, die in Lehrplänen zu finden sind und weit darüber hinausgehen.
Nicht nur weil wir uns in Fantasy-Settings oder Simulationen bewegen, sondern weil ein viel breiteres Spektrum an Kompetenzen angesprochen und gefördert wird im Vergleich zu traditionellen pädagogischen Vermittlungsformen, die Lernerinnen oft noch als reine Empfängerinnen von Wissen begreifen.
Eine mutige Vision
Momentan tasten sich alle potenziell Beteiligten an der Fusion von Gaming, Streaming und Bildung noch vorsichtig in diese Richtung vor. Wie bereits an gleicher Stelle erwähnt, entdecken große Player in der Spielebranche seit einer Weile das Potenzial ihrer Triple-A IPs für den Bildungssektor und auch kleinere Entwickler trauen sich Spiele zu entwickeln, die sowohl als Unterhaltungsmedium als auch als Lernwerkzeug gut funktionieren.
Spielorientierte Streamer und Youtuber erstellen heute schon vielfältige Bildungsinhalte, wenn es auch bisher nur Tutorials, Let‘s Play-Videos oder Streams sind, mit dem kleinen Unterschied, ausschließlich die Absicht zu verfolgen, anderen Spielerinnen zu ermöglichen, das Spiel (besser) zu erlernen.
Allerdings ist es da kein allzu großer Schritt mehr zu Game Based Learning oder Flipped Classroom. Und schließlich gibt es Menschen wie mich, die versuchen, die Vorzüge des Mediums Computerspiel in die Bereiche Lernen und Training zu transferieren. Lässt sich all das zusammen denken?
Meiner Meinung nach schon und ich traue mich sogar zu behaupten, dass dies die Summe der genannten Entwicklungen darstellen kann, mehr vielleicht noch, eine mutige Vision, die sich als Ergebnis der Revolution sehen lassen könnte. Also Game Based Learning kombiniert mit interaktiven Live-Streams als Ergänzung und Bereicherung des Bildungssystems, das noch so sehr nach Orientierung sucht in Zeiten des Internet und der Digitalisierung.
Ob das funktionieren kann und ein ausreichendes Publikum findet, möchte ich mit Freunden gerade im Selbstversuch herausfinden. Wir würden uns freuen, wenn ihr mit uns diesbezüglich interagieren würdet, vielleicht lernen wir alle etwas daraus.