Far Cry 4 – Achterbahn des Storytelling

Malerische Landschaft, reichlich Action und eine Story, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Ubisofts Blockbuster bietet alles, was das Spielerherz begehrt. Und doch gibt es Raum für Kritik. [Achtung Spoiler]

Das Schwierigste für einen Journalisten ist, kritisch auf eine Sache zu blicken, zu der er bereits eine fest geprägte Meinung hat. Eigentlich sollte jemand anders diesen Artikel schreiben. Aber die Gefühle aus der Achterbahnfahrt durch Kyrat, der Spielwelt von Far Cry 4, sind noch frisch, also breche ich in diesem Fall mutwillig den Status Quo und analysiere das Spiel selbst.

Bereits vor dem Release im November 2014 war ich hellhörig. Das Abenteuer aus Teil 3 der Reihe war mir noch gut in Erinnerung. Das malerische Inselsetting, der Psychopath Vaas (der eigentlich der Oberbösewicht sein sollte, ich weiß) und ein simples, aber forderndes Missionsdesign. Die perfekten Zutaten für einen gelungenen Actioncocktail. Und Gott sei Dank endlich wieder ein Shooter ohne Monster, Zombies, Außerirdische oder übernatürlichen Schnickschnack. Größtenteils zumindest.

Far Cry 3

Auf leisen Sohlen durch den Dschungel. © Ubisoft

Von der ersten Sekunde an fesselte mich damals schon das systematische Erobern von Außenposten. Wie schalte ich den Alarm ab, ohne dabei den ganzen Stützpunkt zu alarmieren? Wie bringe ich die beiden Wachen dazu sich aufzuteilen, damit ich sie einzeln erledigen kann? UND WOHER ZUR HÖLLE KOMMT AUF EINMAL DER KERL DIREKT NEBEN MIR?

Der Hype um Kyrat hat begonnen

Klar, alle diese Fragen wären mit einem fetten Maschinengewehr, einer handvoll Granaten und dem handlichen Raketenwerfer für den Mann von Welt obsolet gewesen. Aber dafür bin ich einfach zu perfektionistisch. Ich WOLLTE dieses “Undetected” in der Eroberungssequenz.

Die restlichen Inhalte waren dabei nebensächlich. Die Story fühlte sich phasenweise nur wie eine lästige Verzögerung zur nächsten schwer bewachten Basis an. Kleine Scharmützel mit der örtlichen Fauna dienten als gerade noch geduldete Regenerationsübungen, bevor ich wieder zu Solid Snake wurde.

Als Ubisoft im Sommer 2014 seinen Stand auf der Gamescom in Köln mit jeder Menge Artwork zum vierten Far Cry schmückte, war es um mich geschehen. Altbewährtes verfrachtet in ein neues Setting. Vom Inselkult in den virtuellen Himalaya. Verdammt hübsch ausgesehen hat es ja auf den ersten Eindruck. Aber ich bin etwas anspruchsvoller und vor allem kritischer geworden. Was also bietet Far Cry 4 abseits meiner geliebten Eroberungsmissionen noch?

Bevor wir in die Tiefe gehen, sei gesagt: Ich habe Far Cry 4 verschlungen und tue es noch. Das Setting, die Hide&Sneak-Missionen, die unzähligen Nebenaufgaben und Schauplätze – Kyrat hat mich gefesselt und nicht mehr losgelassen.

Entering Kyrat

Der Plot ist schnell erklärt. Protagonist Ajay kehrt in seine Heimat zurück um die Asche seiner Mutter zu verstreuen. Dabei macht er sogleich Bekanntschaft mit dem charismatischen Pagan Min, der ganz Kyrat unterjocht. Der “sympathische” Diktator lädt Ajay zum Kaffeeklatsch. Da weder der pseudotibetanische Grützekuchen noch die Foltergeräusche sehr zur Gemütlichkeit beitragen, beschließen wir kurzerhand Pagans Palast zu verlassen. Dank der Hilfe der lokalen Rebellengruppe Golden Path gelingt uns das auch. Ist ja nicht so, als wäre Ajay ein rambomäßiger Einzelgänger, oder? Oh, we’ll get to that!

Er schließt sich also dem Golden Path an und hilft ihnen beim Widerstand gegen Pagan Min. Bis hierhin ein solider Plot, der nach Belieben ausgeschmückt, gedreht und zugespitzt werden könnte. Vor allem, weil Pagan uns eingangs eröffnet, dass er mit Ajays Mutter ein Verhältnis hatte.

Bereits die ersten Minuten in Far Cry 4 saugen den Spieler richtig hinein. Die Hauptfigur trauert, fühlt sich unsicher. Ajay will eigentlich nur in Ruhe den letzten Wunsch seiner verstorbenen Mutter erfüllen. Doch Pagan Min fängt ihn ab und eröffnet ihm einige brisante Details. In bester Diktator-Manier bezeichnet er obendrein den Golden Path als Terroristen. Das Weltbild scheint klar. Böser Führer gegen widerspenstige, aber gute Rebellen. Dann beginnt die Achterbahnfahrt.

Die „Guten“ in Far Cry 4

Innerhalb der Rebellen gibt es zwei Anführer. Den traditionsbewussten Sabal und die zukunftsorientierte Amita. Während Sabal alles vergöttert wofür Ajays Vater Mohan, Gründer des Golden Path, steht, will Amita mit der Vergangenheit und den Traditionen brechen, um Kyrat eine stabile und wirtschaftlich sichere Zukunft zu ermöglichen. Beide sind felsenfest von ihren subjektiven Idealen überzeugt, die mit den jeweils anderen ständig im Clinch liegen. Wir finden uns also eigentlich in einem Dreieck aus Interessen wieder, in dem unsere eigenen erst einmal warten müssen. „Looks like we’re staying“, kommentiert Ajay dies mit einem Blick auf die Urne. Er wird zur Schachfigur.

Ein ewiges Hin und Her. © Ubisoft

Pagan, Amita und Sabal manipulieren uns über die gesamte Dauer des Spiels. Auf Questebene bleibt uns, falls wir zu Beginn nicht artig an Pagans Tisch dem Crab Rangoon gefrönt haben, allerdings immer nur die Entscheidung zwischen den beiden Rebellen. Die anfangs gesäte Verunsicherung schwingt bei jeder “Balance of Power”-Mission mit. Wir müssen uns fortwährend zwischen Amitas und Sabals Weg entscheiden. Während sich Ajays Verzweiflung sehr spürbar auf uns als Spieler überträgt, fehlt dem Missionsdesign allerdings etwas die Konsistenz, und damit die Glaubwürdigkeit.

Opium fürs Volk

Beispielsweise stellt sich uns in einer Mission die Frage, ob wir Pagans Opiumplantage vernichten, oder das gute Zeug für Kyrats Startkapital nach Pagans Schreckensherrschaft selbst verticken sollen. Als gut erzogene Zocker ist für uns die Sache natürlich klar. Wir versuchen stets das Richtige zu tun, in einer Welt, in der alles dem Verderben geweiht scheint. Also weg mit den bösen Drogen! Dumme Amita!

Leider kommt die Mission in keinster Weise an das kultige Ebenbild aus Far Cry 3 heran. Statt Skrillex liegt uns im Anschluss Amita in den Ohren. Sie hätte die armen Pflänzchen doch für die Herstellung von Medizin nutzen wollen. Warum sagt sie das nicht gleich? Damit hätten wir uns vermutlich eher identifiziert.

Erst am Ende, sofern man sich entschieden hat, Amita zu helfen, stellt sich heraus, dass sie es aufgrund ihrer Egomanie gar nicht anders sagen konnte. Sie ist von ihrer Sache (selbst Kinder zur Arbeit zu zwingen um Kyrat eine strahlende Zukunft zu sichern) so überzeugt, dass sie während des Manipulierens nur noch an den Endzweck ihres perfiden Spiels denkt. Im großen Finale erschließt sich uns ihr Vorgehen. Direkt im Anschluss an die Mission ärgern wir uns nur über ihre Unfähigkeit zu kommunizieren. Noch haben wir keinen blassen Schimmer, was die beiden Möchtegern-Che-Guevaras wirklich wollen.

Apropos Kommunikation

Um sämtliche Unklarheiten zu vermeiden, ist dem “charmanten” Führer des Landes nachhaltige Kommunikation ein besonderes Anliegen. Seine Propaganda ist ein mächtiges Werkzeug. Über ganz Kyrat hat Pagan Sendetürme verteilt, mittels derer seine “Ministry for Public Affairs and Social Harmony” Parolen verbreitet. Dazu klebt an jeder zweiten Hausmauer eines seiner Plakate. Übrigens auch an den Sendetürmen selbst – außen im zweiten Stock – ohne Balkon und Meerblick.

Wieviele Spieler haben sich beim Hochklettern: “Ach, schau! Ein Poster! Eigentlich ist der Pagan ja ein ganz lieber. Ich lass ihm seine Radioshow”, gedacht? Vermutlich kein einziger. Jeder weiß, wie wichtig einem Regime seine Breitenwirkung ist. Jeder, außer der Golden Path. Trifft man Rebellen auf solchen Türmen? Reißen sie die Plakate von den Wänden, sobald Ajay für sie einen Außenposten befreit hat? Nein. Schließlich hat Ajay das ebenfalls in die Hand genommen, nachdem die Einheimischen einer Gebirgslandschaft allesamt miserable Kletterer zu sein scheinen.

Propaganda done wrong. © Ubisoft

Selbst während der Hauptkampagne findet Mins “Programm zur Erziehung des Volkes” kaum Aufmerksamkeit. Lediglich als Nebenmission dürfen wir Propagandaposten auseinandernehmen. Sendetürme zu kapern wäre ähnlich irrelevant, würde dadurch nicht die Karte aufgedeckt werden. Was macht es schon, wenn das Volk vom Zampano im Hello-Kitty-Smoking gebrainwasht wird? Hauptsache der Golden Path behält Ajays Fäden in der Hand.

Apropos Volk

Für wen eigentlich der ganze Rummel? Im Nachhinein betrachtet verpulvert Pagan mit seiner Propaganda jede Menge Moneten.

Ich habe zig Stunden in Kyrat verbracht. Potentielle Zuhörer habe ich selten getroffen. Hier und da fährt ein einsamer Kleinwagen mit zwei Zivilisten durch die verödete Landschaft. Die meisten Bewohner Kyrats stecken entweder im Gefängnis oder in Arbeitslagern. Als Touristenattraktion dürfte die Masche auch nicht gedacht sein. Der König unterhält also ein aufwändiges Netzwerk zur internen Unternehmenskommunikation. Er scheint sich um die Treue seiner Anhänger zu sorgen. Dazu hat er auch allen Grund.

Die Bösen in Far Cry 4

In den Weiten des Web kursieren Analysen zu Far Cry 4, die darauf aufbauen, dass Pagan eigentlich nur eine Family Reunion im Sinn hat, um die Herrschaft über Kyrat an Ajay weiterzugeben. Sowohl Intro als auch eine der Endsequenzen unterstützen diese Theorie. Aber warum eröffnet die Royal Army dann bei jeder Begegnung unmittelbar das Feuer?

Family-Selfie. © Ubisoft

Jeder einzelne Soldat kennt Ajay. Zumindest schreien sie jedes Mal seinen Namen, sobald der Spieler entdeckt wird. Wissen die allesamt nicht, dass Pagan Min ihn lebend will? Oder hat sich die Absicht des Königs ebenso wenig herumgesprochen wie die Tatsache, dass er ungehorsame Soldaten gerne einmal mit seinem goldenen Kugelschreiber erdolcht?

Sieht man sich das Setting einer weiteren Art von Nebenmissionen an, kommt man nicht umhin, den Soldaten massive Todessehnsucht zu attestieren. Ich spreche von den Bomb-Defusal-Missionen. Die laufen nach folgendem Schema ab:

Die Royal Army plant einen strategisch oder kulturell wertvollen Punkt dem Erdboden gleichzumachen. Ajay soll die Sprengsätze entschärfen und anschließend sämtliche Soldaten eliminieren. Wird er entdeckt, starten diese einen Countdown für die Sprengsätze. An allen Sprengladungen auf die Sekunde genau gleichzeitig. Das lässt den Schluss zu, dass die Bomben ferngesteuert werden. Klar soweit?

Wie ich eines schönen sonnigen Tages einmal mehr auf einer Klippe über so einer bedrohten Sehenswürdigkeit stehe, fällt mir auf, dass die Herren in Rot stur auf dem Gelände patrouillieren. Eine Minute, fünf Minuten. Durch das Fernrohr meines Gewehrs sehe ich auch klar und deutlich die Achtung-Ich-bin-eine-Bombe-Lichter an den Dynamitstangen blinken. Die Dinger sind also scharf. Warum zum Teufel steht die Elite der königlichen Armee dann immer noch seelenruhig daneben? Nach zehn Minuten verlässt mich die Geduld und ich stürme den Laden.

Das Piepen der Zünder muss etwas Beruhigendes haben. © Ubisoft

Dem Untergang geweiht

Pagan ist wirklich nicht zu beneiden. Er vertraut einem Haufen unzuverlässiger Idioten. Bei aller Spitzfindigkeit ist er selbst jedoch mit Schuld an der Misere. Vor allem in Anbetracht seiner direkten Untergebenen. Noore betreibt eine Arena in einer Tempelanlage. In ihr werden nach römischem Vorbild blutige Kämpfe veranstaltet. Die verzweifelte Noore unterhält das Himalaya-Kolosseum aber nicht freiwillig. Ihre Familie befindet sich in den Händen des Regimes und dient Pagan als Druckmittel. Wenig überraschend, dass Ajay ihr eines Tages helfen soll, ihre Familie zu retten.

Alle Vorsicht über Bord geworfen, stellt Pagan Noore obendrein eine eigene Festung zur Verfügung, von der aus sie in seinen Angelegenheiten agiert. Erpresste sind schließlich die vertrauenswürdigsten Mitarbeiter. Dumm nur, dass sich im Laufe der Geschichte herausstellt, dass Paul “De Pleur” Harmon, General der Royal Army, das Druckmittel bereits vor Jahren töten ließ. Auf diese Neuigkeiten reagiert Noore völlig geschockt. Obwohl ich sie, entgegen der Wünsche einiger Golden-Path-Mitglieder, lebend aus ihrer Arena geleiten wollte, wählt sie den Freitod.

Ich liebe vorgegaukelte Entscheidungsgewalt – NOT.

Der Partygeneral

Widmen wir uns De Pleur. Das perfekte Beispiel wie man Beruf und Privatleben trennt. In Kyrat vertreibt er sich die Zeit mit Folter und Partys. Die Opfer seiner Gewaltorgien enden nicht selten als Schweinefutter. Snatch lässt grüßen. Wertgegenstände der Toten werden als Geschenke für Frau und Tochter in der fernen Heimat recycelt, mit denen er in Verhörpausen liebevoll telefoniert. Ein Herzchen.

DePleur bei der Arbeit. © Ubisoft

So sehr De Pleur sich auch für das Malträtieren von Rebellen begeistert, als Spieler wundern wir uns nicht schlecht, als in seiner City of Pain eine große Party läuft. Das trübt sein Image als knallharter Chef der königlichen Armee gehörig. Wenn ich es schon mit unberechenbaren Terroristen, wie Pagan Min den Golden Path nennt, zu tun habe, würde ich meine Wachen nicht zu Shangri-Lager und Dance Music abkommandieren.

Auf der Suche nach Noores Familie nutzen wir dies natürlich aus. Byebye, Paul. Was mit ihm passiert, nachdem wir ihn zum Golden Path verfrachtet haben, bleibt unklar. Wird er getötet? Wird er verhört? Verrät er gar brisante Informationen zum Regime? Nichts. Wir kidnappen einen der drei wichtigsten Bösewichte und nichts passiert.

Gut, Noore nimmt sich das Leben, nachdem sie vom Tod ihrer Familie erfährt. Alles in allem aber ein bisschen dürftig für den storyhungrigen Spieler. Das “Ist doch eh alles egal”-Gefühl wächst. Trotzdem, der “belanglose” Paul kommandiert neben seiner Folterstätte ebenfalls eine eigene Festung. Good choice again, Pagan.

Die treue Seele

Die Einzige, die einen einigermaßen brauchbaren Job für das Regime in Kyrat macht, ist Yuma. Sie hat die Hoheit über das Durgesh Gefängnis in den Bergen, wo wir als Spieler selbstverständlich auch einmal gastieren. Nebenbei kontrolliert sie Noores Arbeit und stellt gleichzeitig die letzte Bastion vor Pagan selbst dar. Ach ja: Sie hat ebenfalls ein eigenes Fort. Ganz schöner Workaholic, die Gute.

Bevor wir in James-Bond-Manier aus dem Gefängnis fliehen, will uns Pagan mit einer Portion “Tough love” wieder auf Schiene bringen. Für eine Family Reunion definitiv die falsche Umgebung. Unser flamingofarbener Blondschopf betont auch in Yumas Gegenwart, dass Ajay tendenziell heil bleiben sollte. Bis zu Yumas Gefolgsleuten spricht sich das aber wieder nicht durch. Stattdessen werden wir, wie so oft in diesem Spiel, unter Drogen gesetzt. Auch die Dämonen, denen wir im Zuge unseres Ausbruchsversuchs begegnen, präsentieren sich ebenfalls nicht als Familienmenschen.

Lang lebe der König

Bleibt von den Böseböslichen noch Pagan selbst. In gewisser Weise scheint er zu ahnen, dass auf sein Personal kein Verlass ist. Er bereitet nicht nur emsig die Familienfeier mit Ajay vor, sondern betreibt ebenfalls seine eigene Festung. Ohne Yuma wäre Pagan Min der Einzige im Regime, der mit Hingabe an dessen Fortbestand arbeitet. Nur fair, schließlich arbeitet auf der anderen Seite auch nur einer für die Ziele der Rebellen. Aber dazu kommen wir noch.

Bei all den Verpflichtungen müsste Min eigentlich an mehreren Orten gleichzeitig sein. Fernsehauftritte, Dorfbewohner (die wenigen, die es gibt) terrorisieren, Kollaborateure der Rebellen ausforschen. Praktisch, wenn einem dabei ein Double zur Seite steht. Ich gestehe, ich habe es nicht kommen sehen. Aus meinem Versteck habe ich Pagans einlullenden Worten gelauscht, ehe er das arme Paar von der Royal Army exekutieren ließ, das dem Golden Path und mir zuvor geholfen hat.

Well played, Sir! © Ubisoft

Endlich kriecht der Diktator aus seinem Loch und scheint verwundbar. Schnell die Wachen vor der Hütte weggenatzt und dem Schweinehund hinterher. Mittels Fluggerät hefte ich mich an seine Fersen. Beinahe mein gesamter Granatenvorrat fliegt auf die Straße unter mir. Die Hälfte der Soldaten, die mich mit Raketen befeuern, ignoriere ich. Ich will nur Pagan.

Dann endlich stoppt das Auto und die Jagd geht zu Fuß weiter. Raus mit dem Gewehr, voll über die Kimme ins Korn – und es ist vollbracht. Der rosa Anzug sackt vor mir zusammen. War eigentlich ganz leicht. Eigentlich … ganz … leicht. ZU LEICHT! Schon schnarrt Pagans Stimme aus meinem Walkie Talkie. Ob mir klar sei, wie lange es gedauert hat, jemand mit so perfekten Wangenknochen zu finden, keift Min. Eine brillante Episode der Far Cry 4-Kampagne. Wir nähern uns langsam dem Ende.

Einer muss gehen

Als es schließlich zur letzten Balance of Power-Mission kommt, stehen wir abermals vor einer vermeintlich leichten Aufgabe. Ein heiliges Bauwerk soll von King Pagans Streitmacht, der Royal Army, in die Luft gesprengt werden. Sabal will dieses Verbrechen an der Kultur natürlich verhindern. Amita wären die Sprengladungen ein willkommener Weckruf, um eine neue Zeit für Kyrat einzuläuten. Erneut einfach zu entscheiden, möchte man meinen.

Was Sabal uns allerdings verschweigt: Der Tempel liegt bei unserer Ankunft (und auch schon lange davor) bereits halb in Trümmern. Er ist ebenfalls so fixiert auf seine Ideale, dass er nicht bemerkt, dass das spirituelle Erbe von Kyrat schon lange vor sich hin bröckelt. So kommt es, wie es kommen muss: Wir sollen Amita im Anschluss endgültig aus dem Spiel nehmen.

Man mag mich naiv schimpfen, aber ich habe bis zu diesem Auftrag darauf gehofft, dass sich die beiden Streithähne einigen und gemeinsam mit dem Golden Path für die Befreiung und den Wiederaufbau Kyrats sorgen. Nichts da! Stattdessen reinigt Sabal sein Gewissen mit dem Blut Unschuldiger. Wer immer seiner Konkurrentin gefolgt ist, habe laut ihm ein Verbrechen gegen die Götter begangen, und habe es nun selbst zu verantworten, dass ihm die Kehle durchgeschnitten wird. Solange man nach Amitas Tod nicht zufällig noch einmal zu besagter Tempelruine schippert, erfährt der Spieler aber nichts von Sabals Hinrichtungen. Stattdessen habe ich brav den letzten Kampf gefochten und das glückliche Kyrat von Pagans Präsenz erlöst. Stichwort: Ich!

One Man Army

Ruhig und friedlich kommt unsere Spielfigur Ajay Ghale in Kyrat an. Eine leichte Verunsicherung ob der ausgesprochenen Reisewarnung für das Gebiet wird durch Pagans einleitendes Kaffeekränzchen noch gehörig verstärkt. Nichtsdestowenigertrotz behält Ajay immer einen kühlen Kopf und meistert mühelos sämtliche Aufgaben … und zwar ganz alleine. Wir wissen nichts über unseren Protagonisten, außer dass er USA-Kyrat-Doppelstaatsbürger sein soll und seine Mutter beerdigen will. Sein Vater Mohan, so stellt sich heraus, war einst der Anführer des Golden Path.

Woher weiß er, wie man mit Wingsuit und Fallschirm umgeht? Wo hat er gelernt, mit jeder Art Schusswaffe und Sprengstoff zu hantieren? „I’m no soldier“, erklärt er noch während der ersten Aufträge. Vielleicht ist er ein Naturtalent. Eines ist er aber ganz bestimmt: Ein unwissender, gutgläubiger Trottel. „It just felt like the right thing to do“, begründet er seine ausgleichende Hilfsbereitschaft, nachdem ihn Sabal eingangs aus Pagans Fängen gerettet hat.

Dass er den Manipulationsversuchen der verschiedenen Lager auf den Leim gegangen ist, stellt noch nicht einmal das größte Problem dar. Ganz egal nach wessen Pfeife er tanzt, er tanzt alleine. Nur hier und da hilft er bei Zufallsbegegnungen einer Handvoll Rebellen im gemeinsamen Feuergefecht. Sämtliche Missionen bestreitet er auf eigene Faust. Nebenmissionen stellen weitere Akteure vor, die Ajay für ihre Sache überreden können. Vielleicht denkt er einfach: “Hey, die Asche meiner Mutter läuft schon nicht weg. Amüsiere ich mich mal auf Rambo.” Stück für Stück ergibt sich Ajay auch in diese Rolle.

Alles andere als harmlos: Die Drogenexperimente von Reggie und Yogi. © Ubisoft

Bezeichnend dafür sind die Missionen von Yogi und Reggie. Als wir zum ersten Mal auf die beiden treffen, werden wir als Versuchskaninchen für ihre Drogenexperimente missbraucht. “Shame on me, if you fool me twice.” Ein berühmter Satz, den Ajay noch nie gehört hat. Auch bei den folgenden Treffen setzen uns die beiden Knallfrösche unter Drogen. Mit jedem Mal scheint Ajay der Rausch mehr zu gefallen. Er gewöhnt sich an das Prozedere und fragt sogar verunsichert nach, als ihm Reggie einmal nicht gleich die Spritze in den Arm rammt. Es bleibt aber uns als Spieler überlassen, wann wir diese Missionen in Angriff nehmen. Parallel zur Hauptstory verstärken die Trips natürlich Ajays Image vom gleichgültigen Ahnungslosen.

Bevor wir schließlich Amita töten sollen und diese schockiert ist, dass Sabal ausgerechnet uns dafür geschickt hat, stellt er beinahe resignierend die rhetorische Frage: “Who else pulls the trigger around here?” Er hat sich seinem Schicksal endgültig ergeben.

Unterm Strich

Das klingt auf den ersten Read nach jeder Menge Kritikpunkte. Aber ist Far Cry 4 jetzt so furchtbar, wie es sich liest? Mitnichten. Wie eingangs erwähnt, habe ich Kyrat richtig ausgekostet und tue es noch. Das Spiel bietet eine riesige offene Welt, unzählige freischaltbare Waffen, tonnenweise Sidequests, noch einmal soviele Collectibles und jede Menge Hintergrundinfo zu Kyrat, Religion, Charakteren und der Geschichte selbst, wenn man sich die Zeit nimmt, sie zu finden.

Im Detail wirken einige Storyparts verwirrend. Im Großen und Ganzen spielen diese Unklarheiten zu Ajays Ahnungslosigkeit hinzu. Unser anfängliches Weltbild wird auf die Probe gestellt und dreht sich schließlich um. Bildlich gesprochen, aus dem ursprünglichen Schwarz-Weiß wird mit Fortdauer der Geschichte ein düsteres Grau. Aus Verzweiflung scheint der Hauptcharakter die Flucht nach vorne anzutreten. Mitten rein ins große Unbekannte. Ein Trip, der sein Geld auf jeden Fall wert war.

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Titelbild: © Ubisoft

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Autor/Autorin

Clemens Istel

Schon als Kind hatte Clemens lieber den MegaDrive Controller als das Fläschchen in der Hand. Rund ein Vierteljahrhundert macht er bereits virtuelle Welten unsicher. Ob RPG oder FPS, kaum ein Genre ist vor ihm sicher. Selbst im ESport hat der "Head of Head off" von Screaming Pixel seine Erfahrungen gesammelt. Grundsätzlich gilt für ihn: Je openworlder, desto zock!